Blockade des Suez-Kanals – ein Sonderfall?

Nur wenige Schlagzeilen hatten in den vergangenen Monaten so viel Schlagkraft, dass sie das momentane Dauerthema verdrängen konnten. Eine davon war in jedem Fall die Blockade des Suez-Kanals durch das Containerschiff "EVER GIVEN" Ende März. Auch jetzt, rund einen Monat nach dem Vorfall, sind bei weitem nicht alle offenen Fragen geklärt. Joachim Cegan, Leiter der Abteilung Transportversicherungen bei GGW, spricht über die aktuelle Lage und deren mögliche Auswirkungen.

Hamburg, 29.04.2021 – Betroffen sind sowohl diejenigen, deren Waren auf der EVER GIVEN transportiert werden, als auch diejenigen, deren Güter auf anderen Schiffen durch den entstandenen Stau vor dem Suez-Kanal mit deutlicher Verspätung ihr Ziel erreichen.


HERR CEGAN, IST DAS, WAS MIT DER EVER GIVEN GESCHEHEN IST, EIN EINZELFALL ODER DROHEN WIEDERHOLUNGEN?

Joachim Cegan (im Folgenden J. C.): Konkret lässt sich die Frage, ob sich ein solches Ereignis wiederholen wird, für die Zukunft natürlich nicht beantworten. Fakt ist jedoch, dass gerade die Seestrecke zwischen Asien und Europa mit vollbeladenen Schiffen stark frequentiert ist. Weltweit hat die Pandemie Probleme für die Lieferketten verursacht. Vor allem die diversen Lockdowns haben dazu geführt, dass in Asien ein zu geringer Bestand an Containern vorhanden ist, um auf die wieder zunehmenden Exporte ausreichend reagieren zu können. Die fahrenden Schiffe sind entsprechend üppig beladen - bei einem solchen Kapazitätsmaximum ist das Sicherheitsrisiko für Fracht und Besatzung bei schlechten See- und Wetterbedingungen deutlich erhöht. Das bestätigte sich in der Vergangenheit durch vermehrte Meldungen über auf der Fahrt verlorene Container.

Hinzu kommt die Tatsache, dass die modernen Schiffe immer größer werden. Die vorhandenen Wasserstraßen waren auf derartige Größen im Ursprung nie ausgelegt. Ob und inwieweit das zu neuen Problemen führen kann, lässt sich ebenfalls noch nicht absehen.
 

WEN TREFFEN DIE AUSWIRKUNGEN AM STÄRKSTEN?

J. C.: Schon vor der Blockade des Suez-Kanals gab es Branchen, die mit Lieferengpässen zu kämpfen hatten. Dazu zählen beispielsweise die Chemieindustrie und die Automobilindustrie. Auch elektronische Bauteile aus Asien gerieten zunehmend ins Hintertreffen. Verzögerungen wie diese können daher schnell zu dramatischen Unterbrechungen der Lieferkette führen, die im schlimmsten Fall einen Produktionsstillstand, in jedem Fall aber zeitliche Verzögerungen zur Folge haben.
 

WIE TRITT IN EINEM FALL WIE DIESEM DER VERSICHERUNGSSCHUTZ IN KRAFT?

J. C.: Der Fall der EVER GIVEN betrifft versicherungstechnisch unterschiedliche Punkte. Dabei ist vor allem zu unterscheiden, ob die Ware auf der havarierten EVER GIVEN oder auf dahinter folgenden Schiffen transportiert wurden, die durch den Stau nur mittelbar betroffen waren.

Für die Waren an Bord der EVER GIVEN gilt:

  • Der Verlust oder die Beschädigung der Güter durch die Strandung des Schiffes sind versichert.
  • Die Warentransport-Versicherung umfasst auch Verbindlichkeiten aus der Havarie-grosse.
  • Es besteht möglicherweise auch ein Anspruch auf Ersatz von Beförderungsmehrkosten oder berechtigte Mehrkosten von Spediteuren, was jedoch im Einzelfall geprüft werden muss.
  • Wertminderungen der Ware durch Zeitablauf sind grundsätzlich nicht versichert; das erfordert gegebenenfalls eine Einzelfallprüfung.
     

UND WAS GENAU IST DIE BEDEUTUNG VON HAVARIE-GROSSE?

J. C.: Die Havarie-grosse ist eine speziell definierte Rechtslage für die Besonderheiten der Schifffahrt. Schiff und Ladung gelten in der Transport-Versicherung als zusammenhängende Gefahrengemeinschaft. Im Falle der Havarie-grosse werden die an Schiff und Ladung bewusst verursachten Schäden erfasst. Hinzu kommen sämtliche Kosten, die entstanden sind, um Schiff und Ladung in einer gemeinsam drohenden Gefahrensituation zu retten, sofern der Kapitän entsprechende Maßnahmen angeordnet hat. Proportional zu den jeweiligen Beitragswerten von Schiff, Ladung und Frachtgeld werden diese Schäden und Kosten unter allen Beteiligten aufgeteilt. Sie müssen von den jeweiligen Interesseninhabern in dieser Aufteilung getragen werden.

Für die Waren an Bord von Schiffen, die mittelbar von der Blockade betroffen sind, gilt: Schäden durch "Verzögerung der Reise", inneren Verderb" oder "mittelbare Schäden aller Art" sind von der Deckung ausgeschlossen.

Und: Über Sonderlösungen in Bezug auf Verzögerungsrisiken können separate Verträge geschlossen werden, die in der Regel auch Blockaden wie die des Suez-Kanals einschließen würden. Sie erfordern allerdings genaue Risiko-Analysen auf den jeweiligen Routen und haben Einfluss auf die Höhe der Versicherungsprämien.
 

WER HAT IN DIESEM FALL AM ENDE WELCHE KOSTEN ZU TRAGEN UND WIE HOCH WIRD DER GESAMTSCHADEN SEIN?

J. C.: Das ist aktuell noch nicht festzustellen. Zudem gibt es verschiedenste Umstände, die die Klärung erheblich erschweren:

Ägypten fordert einen hohen Schadenersatz, unter anderem von der taiwanesischen Reederei Evergreen, und verhindert die Weiterfahrt der EVER GIVEN. Somit liegen die rund 20.000 Container an Bord weiterhin auf Eis, ohne einen konkreten Ausblick auf den Weitertransport.

  • Die Gründe der Havarie sind noch nicht final geklärt. Bisher war die Rede von starken Winden eines Sandsturms als Auslöser sowie von einem möglichen Stromausfall an Bord. Beides wurde bisher nicht final bestätigt.
  • Der gesamte Schadenhergang ist ungeklärt, und das verhindert eine Einschätzung möglicher Vermögensschäden.
  • Ob und in welchem Maße dieser Fall sich auf künftige Prämien auswirken wird, lässt sich ebenfalls noch nicht absehen. Betroffen sind in jedem Fall sowohl die Schiffsversicherer als auch die Warenversicherer.
     

WELCHE EMPFEHLUNG AN IHRE KUNDEN ERGIBT SICH FÜR SIE AUS DIESER AKTUELLEN LAGE?

J. C.: Der Fall der EVER GIVEN zeigt deutlich, wie wichtig der Abschluss einer umfangreichen Transport-Versicherung ist. Speziell im Fall einer Havarie-grosse ermöglichen die Versicherer die Freigabe der Waren auf dem havarierten Schiff durch die versicherte Kostenübernahme. Wer nicht versichert ist, muss bar zahlen, um seine Ware zu erhalten. Das ist nicht nur aufgrund der enorm hohen Kosten kaum möglich. Hinzu kommt, dass sich die finale Klärung der Umstände und damit auch der Schäden und Kosten häufig über einige Jahre hinziehen kann.

Wer von diesem aktuellen Fall direkt betroffen ist, sollte inzwischen bereits informiert worden sein, nachdem im Rahmen der Havarie-grosse mit der Schadenermittlung begonnen wurde. Für weitere Fragen oder auch zur Prüfung der Versicherungskonzept stehen unsere Experten unseren Kunden jederzeit gern zur Seite.

Vielen Dank für das Gespräch!
 

Über die GGW Gruppe

Die Gossler, Gobert & Wolters Gruppe (GGW Gruppe) ist einer der großen unabhängigen und inhabergeführten Industrieversicherungsmakler in Deutschland. Als Experte für integriertes Risiko- und Versicherungsmanagement betreuen die rund 290 Mitarbeiter der GGW Gruppe mittelständische Unternehmen aus Industrie, Handel, Gewerbe sowie den rechts- und wirtschaftsberatenden Berufen. Deutschlandweit ist das Beratungshaus an neun Standorten vertreten und berät in Zusammenarbeit mit internationalen Netzwerken Kunden in über 60 Ländern.

Autor: Claudia Runge
Veröffentlicht: 29.04.2021
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